Wie lange lebt ein Haus? Vielleicht schon bald für immer! Denn während das Ende einer Immobilie bislang mit jeder Menge Bauschutt und Abfällen besiegelt wird, könnte es bald schon möglich sein, ein Haus immer wieder auf- und abzubauen. Dahinter steckt das sogenannte „Cradle to Cradle“-Prinzip, das es im Bauwesen ermöglicht, Rohstoffe zu sparen, Bauabfälle zu vermeiden und schadstofffreie Häuser für alle künftigen Generationen zu bauen. Was „Cradle to Cradle“ in der Praxis bedeutet, verraten wir Ihnen im folgenden Artikel.

Die Wiege des Cradle to Cradle

Bauen in der ZukunftDas Kreislauf-Prinzip „Cradle to Cradle ®“ wurde von dem deutschem Chemiker Prof. Dr. Michael Braungart und dem US-Architekten William McDonough Ende der 1990er-Jahre entwickelt. „Von der Wiege zur Wiege“ – so lässt sich der Begriff Cradle to Cradle (kurz: C2C) ins Deutsche übersetzen.

Dahinter steckt die Vision einer abfallfreien Wirtschaft, bei der Unternehmen keine gesundheits- und umweltschädlichen Materialien verwenden und Rohstoffe dauerhaft einem Kreislauf zurückgeführt werden.

Dabei wird in zwei verschiedenen Kreisläufen unterschieden:

  1. Biologischer Kreislauf: Für Verbrauchsgüter, die einer Abnutzung ausgesetzt sind und daher kompostierfähig sein sollten.
  2. Technischer Kreislauf: Für Materialien wie z.B. Metalle oder Kunststoffe, deren Verfügbarkeit begrenzt ist und die deshalb immer wieder als Sekundärrohstoffe eingesetzt werden sollten.

Kreisläufe Cradle to Cradle

Schon vorher an nachher denken: Eigentlich könnte man meinen, dass das von Unternehmen in einer Zeit mit steigendem Umweltbewusstsein und zunehmender Umweltverantwortung bereits umgesetzt wird. Tatsächlich sehen sich Unternehmen bislang aber häufig „nur“ für die Ressourcenbeschaffung, Herstellung und den Verkauf zuständig. Was mit einem Produkt danach passiert – also die Entsorgung, das Recycling oder auch mögliche, schädliche Einflüsse auf die Umwelt – obliegt anderen. Und hier greift das Cradle to Cradle-Prinzip: Bereits vor der Herstellung eines Produktes an das Ende denken.

  • Wie können Produkte nach ihrem Gebrauch in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt werden?
  • Wie ist ein Re- oder Upcycling ohne schädliche Rückstände möglich?

Beim Cradle to Cradle geht es darum, Antworten auf genau diese Fragen zu finden. Daher ist die Idee des C2C auch mehr eine Philosophie als ein feststehendes Konzept.

Die Bedeutung des Cradle to Cradle im Bauwesen

Das Cradle to Cradle Prinzip lässt sich für jedes Produkt anwenden. Aber vor allem im Bauwesen ist die Wiederverwendung von Rohstoffen besonders wichtig. Warum?

Weil bis zu 50 Prozent des weltweiten Rohstoffverbrauchs auf das Bauwesen zurückgehen.

Anteil der Bau- und Immobilienbranche am weltweiten Ressourcenverbrauch

 

Die Rohstoffe, die zum Bau von Gebäuden benötigt werden, sind jedoch endlich. So haben Experten beispielsweise berechnet, dass die Menge an Kupfer, die bereits in bestehenden Gebäuden und Städten verbaut wurde, der Menge entspricht, die noch in Minen vorhanden ist. Hier ist also bereits der Scheitelpunkt erreicht.

Hinzu kommt, dass aufgrund der steigenden Bevölkerung (= steigende Nachfrage) künftig noch mehr Ressourcen als zuvor benötigt werden. Laut Prognosen des „Weltressourcenrats“ der Vereinten Nationen hat sich allein in den vergangenen 30 Jahren der Bedarf an natürlichen Stoffen wie Kohle, Kupfer und Holz verdoppelt.

Aber nicht nur steigende Rohstoffknappheit, sondern auch hohe Materialkosten und ein enormes Abfallaufkommen führen dazu, dass sich in der Bau- und Immobilienwirtschaft eine neue Denkweise etablieren muss.

Herausforderungen beim Cradle to Cradle in der Bau- und Immobilienbranche

Bauen nach dem C2C-PrinzipBei der Umsetzung von Cradle to Cradle im Bauwesen müssen zahlreiche Faktoren beachtet werden. Denn die Entsorgung von Bauabfällen muss sich für das C2C-Prinzip an den beiden Kreisläufen (biologisch und technisch) orientieren. So ist Holz zum Beispiel in den biologischen Kreislauf; Metalle, Glas und Stahl hingegen sind dem technischen Kreislauf zurückzuführen.

Genau hier treten in der praktischen Umsetzung jedoch Hürden auf: Beschichtungen, Zusatzstoffe und Klebeverbindungen, die beim Bau von Bestandsgebäuden verarbeitet wurden, machen es unmöglich, die einzelnen Rohstoffe voneinander zu trennen. Eine Betonwand, auf die beispielsweise Gipsputz aufgetragen wurde, kann nicht in neuen Beton eingearbeitet werden – der enthaltende Gips würde aufquellen und treiben.

Cradle to Cradle im Bauwesen muss deshalb bereits in der Planung ansetzen. Nur so kann eine sortenreine Trennbarkeit gewährleistet werden. Die für den Bau einer Immobilie eingesetzten Materialien müssen für das Cradle to Cradle Prinzip – also von der Produktion beim Hersteller über die Verwendung im Gebäude bis hin zur Wiederverwertung – auf ihre Recyclingfähigkeit analysiert und geplant werden, bevor sie verbaut werden. 

Vorteile von Cradle to Cradle im Bauwesen

Vorteile Cradle to CradleDas C2C-Prinzip klingt aufwendig? Das ist es auch – vor allem, weil der Mensch zum „Altbewährten“ neigt und hierfür alte Denkmuster durchbrochen werden müssen. Steigende Rohstoffknappheit und damit einhergehend auch steigende Rohstoffpreise zwingen jedoch zum Umdenken. Neben der Umweltschonung profitieren durch Cradle to Cradle im Bauwesen außerdem alle Beteiligten, denn…

  • Investoren und Bauherren können ihre Baukosten senken.
  • Hersteller können als Leasinggeber Baustoffe – ähnlich wie bei einem Auto – für eine bestimmte Nutzungsdauer überlassen. Dadurch können Rohstoffe für die Zukunft gesichert werden.
  •  …Cradle to Cradle Gebäude haben hohe Qualitätsanforderungen. Damit stehen Bewohnern hochwertige und gesundheitlich unbedenkliche Gebäude zur Verfügung, die z.B. mittels Durchlüftungssystemen, eingebauten Gewächshäusern oder Fassadenbepflanzungen die Luftqualität verbessern können.

Beispiele für Cradle to Cradle inspirierte Gebäude

„The Cradle“ im Düsseldorfer Medienhafen

The Cradle in DüsseldorfIn diesem Jahr beginnt der Bau des Holzhybrid-Gebäudes „The Cradle“ in Düsseldorf. Das neue Bürogebäude, dessen Fertigstellung für 2021 geplant ist, hat aufgrund seines vorgesehenen Cradle to Cradle Prinzips bereits vor Baustart für Aufmerksamkeit gesorgt. Highlight wird die Fassade sein, die nicht nur architektonisch ein Hingucker ist, sondern größtenteils aus Holz bestehen wird. Ziel ist, das verbaute Holz der Außenfassade später in einem anderen Haus oder für Möbelstücke wiederverwenden zu können. Um ausreichenden Schall-, Brand- und Witterungsschutz zu gewährleisten, haben sich die Architekten dazu entschieden, nicht gänzlich auf Beton zu verzichten. Jedoch sollen sich die einzelnen Materialien im Recycling voneinander trennen lassen, um eine sortenreine Wiederverwendung zu gewährleisten. Auch im Inneren des Gebäudes werden schadstofffreie und recyclebare Materialien zum Einsatz kommen, die den künftigen Büronutzern eine gesunde und angenehme Arbeitsatmosphäre bieten sollen.

Das grüne Rathaus in Venlo

Rathaus VenloIn der niederländischen Stadt Venlo, die nur eine Autostunde vom künftigen „The Cradle“ in Düsseldorf entfernt ist, findet sich ein bereits realisiertes Cradle to Cradle Gebäude: Das grüne Bürgerbüro der Stadtverwaltung Venlo. Das Rathaus zeugt nicht nur von außen mit seiner begrünten Fassade von einer nachhaltigen Stadtentwicklung, sondern kann aufgrund seines mittlerweile fast dreijährigen Bestehens bereits echte Erfolge nachweisen:

  • Der Energieverbrauch hat sich im Vergleich zum früheren Standort auf ein Drittel reduziert.
  • Durch die Fassadenbegrünung filtert das Rathaus in einem Umkreis von 500 Metern 30 Prozent Feinstaub und CO2.
  • Die Krankheitstage der Mitarbeiter im Gebäude haben merklich abgenommen.

„Ein Gebäude muss den Menschen dienen und nicht umgekehrt", hieß es 2009 in der Ausschreibung des Projektes. Das Ergebnis: Ein voller Erfolg. Dazu beigetragen haben Solarpaneele, die Strom speichern, ein künstliches Feuchtgebiet im Innenhof, das Abwasser reinigt sowie die Anwendung von C2C-zertifizierten Materialien.

Der Woodcube in Hamburg

Woodcube in HamburgDass das Cradle to Cradle Prinzip auch für Wohnimmobilien funktioniert, belegt das 5-geschossige Mehrfamilienhaus Woodcube in Hamburg, welches 2013 im Rahmen der Internationalen Bauausstellung IBA Hamburg entstanden ist. Das Gebäude wurde aus Massivholz gebaut und könnte laut Aussagen des Projektmanagers „komplett geschreddert und im Wald verstreut werden, ohne dem Wald damit zu schaden“. Beim Bau des Woodcubes kamen weder Bauchemie, PVC oder Leime zum Einsatz. Es ist CO2-neutral und hat in Tests gezeigt, dass es aufgrund seiner massiven Bauweise sogar ohne Brandschutzmaßnahmen auskommt. Demnach könnte das Gebäude aufgrund seiner mächtigen Holzelemente drei bis fünf Mal länger Feuerwiderstand leisten als normale Beton- oder Ziegelkonstruktionen.

Fazit: Die Zukunft des Bauens hat bereits begonnen

Schadstofffreie Bauten, Ressourcenschonung und weniger Abfälle: Cradle to Cradle ermöglicht neue Denkkonzepte für einen nachhaltigeren Umgang mit Rohstoffen. Erste Projekte im Bauwesen haben bereits jetzt bewiesen, dass das C2C-Konzept Zukunft hat. Auch in der Hauptstadt dürfen wir uns bald über ein Bürogebäude nach dem Cradle to Cradle Prinzip freuen. Hier soll schon bald das „Pulse Berlin“ entstehen, das auf ca. 12.000 Quadratmetern Platz für grüne Büros und Restaurants bieten wird. Bis dahin dürfen wir gespannt sein, welche Unternehmen bereits heute an das Bauen von morgen denken.

Würden auch Sie gerne bald in einem Cradle to Cradle Gebäude Wohnen oder Arbeiten? Kennen Sie weitere Produkte nach dem C2C-Ansatz? Schreiben Sie uns gerne in die Kommentare!

 

Bildnachweise

© Vorschau- und Headerbild: malp / stock.adobe.com

© Grafik biologischer und technischer Kreislauf C2C: Cradle to Cradle e.V.

© Grafik weltweiter Ressourcenverbrauch Bau- und Immobilienbranche: Drees & Sommer

© Hausbau: Gerhard Seybert / stock.adobe.com

© Haus Puzzle-Teile: Andrey Popov / stock.adobe.com

© „The Cradle“ in Düsseldorf: interboden.de

© Rathaus Venlo: C2C Venlo

© Woodcube Hamburg: Deepgreen Development